Plattform für Veranstaltung am Samstag, 8. Juni 2024

Nach Lugano (2022) und London (2023) findet am 11. und 12. Juni 2024 in Berlin die dritte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz (Ukraine Recovery Conference, UCR) statt. Die Wiederaufbaukonferenzen haben die Ukraine-Reformkonferenzen abgelöst, die seit 2017 jährlich stattgefunden haben. Der Rahmen für diese Konferenz wird jedoch abgesteckt durch die Verordnung des EU-Parlaments und des EU-Rates zur Einrichtung einer Fazilität für die Ukraine und durch den Ukraine-Plan, den die Selenskyj-Regierung ausgearbeitet hat.

Der Wiederaufbau der Ukraine ist mit schweren Hypotheken belastet: An einen ernsthaften Wiederaufbau des Landes ist erst zu denken, wenn die Bombardierungen aufhören, die Waffen schweigen und die russischen Truppen sich zurückgezogen haben. Für die Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Ukraine bedeutet die aktuelle Lage, dass sie an zwei Fronten kämpfen: gegen die russische Aggression und gegen die neoliberale Politik der Selenskyj-Regierung, die den Auflagen der EU und des IWF Folge leistet. Diese Politik spaltet die Gesellschaft und wälzt die Last des Krieges einseitig auf die arbeitende Bevölkerung ab. Das schwächt letzten Endes auch den Widerstandswillen gegen die militärische Aggression. 

Auf der Webseite der Konferenz (https://www.urc-international.com/) werben die Organisatoren damit, dass sie die „ständige internationale Unterstützung für die Erholung, den Wiederaufbau, die Reform und die Modernisierung der Ukraine“ wolle. Zur Konferenz selbst sind Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen bisher nicht einmal zugelassen. Es gibt jedoch ein umfangreiches Begleitprogramm, das von verschiedenen staatlichen und kommunalen und mit ihnen kooperierenden Stellen ausgerichtet wird.

Die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und ist vom Export seiner Rohstoffe abhängig. So etwa vom Export von Erdgas, was von Russland mehrfach in „Gaskriegen“ ausgenutzt wurde. Auch die landwirtschaftliche Produktion (Weizen, Sonnenblumen, Gerste) ist weitgehend exportorientiert und wird zum Teil von Agrarkonzernen kontrolliert, denen eine große Zahl von kleinen

Landwirtschaftsbetrieben und Bauern gegenübersteht. Die Ukraine verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde über ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen Union.

Das Land blickt zudem auf einen reichen Schatz an sogenannten kritischen Rohstoffen wie Kobalt, Titan, Beryllium, Graphit und eine Reihe von Seltenen Erden. Es besitzt eines der größten Lithiumvorkommen weltweit, das auf etwa 500.000 Tonnen geschätzt wird und umweltfreundlich abbaubar ist. Die Aneignung dieser Schätze ist nicht nur Hintergrund für die russische Besetzung der Ostukraine. Die Ukraine gilt auch als Rückgrat für die Energiewende der EU.

Die Löhne gehören mit zu den niedrigsten in Europa, Arbeitsrecht und Kollektivverträge wurden schon vor Ausbruch des Krieges teilweise ausgehöhlt und geraten seither immer stärker unter Druck. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass einige Großkonzerne ein großes Interesse an der Ukraine haben. Die Weltbank schwärmt von der Öffnung der ukrainischen Schlüsselindustrie für kapitalistische Unternehmen. Auf der Londoner Konferenz wurden BlackRock, eine der größten Vermögensverwaltungen weltweit, und J.P. Morgan, die größte US-Bank, damit beauftragt, sich um die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft zu kümmern.

Die von der Bundesregierung ausgerichtete Berliner Konferenz gibt vier Themenbereiche an, die behandelt werden sollen:

  • die Mobilisierung des Privatsektors für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswachstum;
  • die sozialen Beziehungen und das Humankapital der Ukraine;
  • der Wiederaufbau der Gemeinden und Regionen;
  • der Beitritt zur EU und die damit verbundenen Reformen.

Konkrete Projekte, die in den Blick genommen werden, sind u.a. der ukrainische Energiemarkt mit dem Aufbau einer Wasserstoffproduktion, die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft mit Hilfe ausländischen Kapitals, die Reorganisation des Gesundheitssektors, eine stärkere Rolle westlichen Kapitals im Städte- und Wohnungsbau sowie lukrative Beratungsleistungen zur Umsetzung der „nachhaltigen Strukturanpassung“.

Wie ein Wiederaufbau der Ukraine im Interesse der Konzerne, des Finanzkapitals, des IWF und der EU aussehen würde, zeigt exemplarisch der „Ukraine-Plan“, der am 18. März 2024 vom Ministerkabinett der Ukraine in Abstimmung mit der EU als Dekret Nr. 244-p verabschiedet wurde. Dieses Vorhaben wird auch von der Bundesregierung unterstützt. 

Eine zentrale Frage beim Wiederaufbau der Ukraine ist die Verschuldung. Die Ukraine war schon vor Kriegsbeginn im Februar 2022 stark verschuldet. 2020 hatte die ukrainische Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland mehr Zahlungsverpflichtungen, als es ihrer jährlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprach. Der Krieg hat die Auslandsverschuldung der Ukraine vervielfacht, das Land ist heute der weltweit drittgrößte Schuldner des IWF. Die zusätzlichen Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg werden zurzeit auf 750 Milliarden Dollar geschätzt. Nach dem Ende des Krieges werden vom ukrainischen Staat Rückzahlungen erwartet, insbesondere von den institutionellen Finanzorganisationen wie dem IWF, der EU und großen privaten Anleihegläubigern.

Die hohe und wachsende Verschuldung der Ukraine wie auch ihre Annäherung an die EU bedrohen den Lebensstandard und die sozialen Rechte der Arbeiter:innen im privaten wie im öffentlichen Sektor. Dies verringert deren Möglichkeiten, beim Wiederaufbau ein gewichtiges Wort mitzureden, obwohl sie die Hauptlast des Krieges tragen. Ihre Sichtweise aber spielt auf der Konferenz keine Rolle.

Wir schlagen eine Veranstaltung vor, in der die Interessen der Lohnabhängigen zu Wort kommen. Zusammen mit unseren ukrainischen Freund:innen – Aktiven aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen – soll sie Anforderungen an einen Wiederaufbauprozess formulieren, der die Bedürfnisse der Bevölkerung und vor allem der arbeitenden Menschen berücksichtigt und sie an diesem Prozess beteiligt.

Nicht die Interessen der Gläubiger und Konzerne oder gar der Besatzer dürfen den Wiederaufbau der Ukraine bestimmen, vielmehr müssen gute Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bevölkerung und soziale Rechte geschaffen und gestärkt werden. Nachdem der Krieg die Ukraine ausgeblutet hat, darf es nicht auch noch zum Ausverkauf ihrer Ressourcen, Mineralien und fruchtbaren Ländereien kommen.

Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, die für Leben und Wirtschaften notwendige Infrastruktur wieder aufzubauen. Die Arbeiter:innen und die Frauen tragen die Hauptlast des Krieges, sie müssen das Sagen haben, ihre Bedürfnisse müssen prioritär berücksichtigt werden. Die Ukraine braucht Lebens- und Wohnräume, ein Arbeitsrecht und Einkommen, die attraktiv sind für die Menschen, die dort leben wollen, und für die zahlreichen Flüchtlinge, die in ein lebenswertes Ursprungsland zurückkehren wollen.

Wir sind überzeugt, dass der Widerstand gegen die russische Aggression durch höhere Einkommen für ukrainische Arbeiter:innen und Bauern und mehr Rechte am Arbeitsplatz, auf Bildung und Gesundheit gestärkt werden würde.

Die Veranstaltung „Für einen selbstbestimmten Aufbau der Ukraine“, soll am 8. Juni 2024 in Berlin stattfinden. Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht die internationale Unterstützung für den Kampf um soziale Rechte und einen Wiederaufbau, der sich an den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung und ihre Teilhabe ermöglicht. Sie will über die Vorhaben der Konzerne und der Finanzindustrie informieren und zusammen mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine Vorschläge für konkrete gemeinsame Projekte und Kampagnen – etwa für die Streichung illegitimer Schulden – erarbeiten. Arbeitsgruppen, die gemeinsam mit ukrainischen Aktivist:innen zu den Handlungsfeldern Bildung, Gesundheit, Schulden und soziale Rechte durchgeführt werden, sollen Möglichkeiten für Kooperationsprojekte ausloten. Der Schwerpunkt auf den sozialen Rechten ermöglicht jenseits der Beurteilung des Kriegsgeschehens die Formulierung gemeinsamer sozialer Interessen auch gegenüber der Europäischen Union.

Die Veranstaltung wird organisiert von der Initiative „Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften“, die humanitäre Hilfe leistet. Die Initiative hat während einer Reise im Oktober 2023 Kontakte geknüpft, auf die jetzt aufgebaut werden soll. Die Reise wurde von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt finanziell unterstützt.

Kontakt: Hermann Nehls
E-Mail: hermannnehls@posteo.de
Mobiltelefon: 0049 1739286430
Web: https://gewerkschaftliche-ukraine-solidaritaet.de/